Kein Atemzug zu spät


Ich hörte von Frau I. aus H., die mit 99 tat, was ihr bis dahin fremd und wohl auch ganz unmöglich war. Was mich nicht nur zum Lachen, sondern fast gleichzeitig zum Freudenweinen brachte. Ich hörte eine echt gelebte und erfahrene Geschichte, eine über das Verlassen einer mehr als 70 Jahre gepflegten eng geschnürten (Un)Komfortzone – und die, also die (Un)Komfortzonen, sind mit 99 bekanntlich ziemlich tief verankert. Frau I. aus H. zeigt mir, uns und der Welt, dass wir auch fest verschnürt Gewohntes ändern können, selbst das, was tief in unseren Knochen wohnt, darf gehen. Wenn wir das wach entscheiden. Egal wie alt wir sind. In diesem Fall geschah Undenkbareres – und wer die kleine feine Lady näher kennt, könnte es fast nicht glauben. Und doch geschah es, nämlich das: Frau I. verschenkte Geld, nicht irgendwelches, sondern ihren Notfallgroschen.

Nun ist die alte Lady gar nicht arm, als dass es nötig wäre, auf einen Notfall hin das kleine Geld zu sammeln. Eher im Gegenteil, Frau I. ist wohl versorgt, fast reich. Sie weiß das auch, sie ist gebildet, klug und firm im Umgang mit den Zahlen und dem Geld – und doch ist sie damit ganz fest gefangen im Trauma eines schlimmen Mangels. Dem Mangel aus dem Krieg. Seitdem, also seit mehr als 70 Jahre, kauft sie deshalb sehr sparsam ein, nimmt immer alles billig, wirft niemals etwas weg und verabscheut alles, was nach Verschwendung riecht – das tut es leicht in ihrer Nase.

Nun hat Frau I. aus H. vor Monaten bis Jahren eine ganz neue alte und sehr tröstliche Notgroschen-Spar-Idee entwickelt – sie sammelt Euro- und 50-Cent-Stücke. Die wandern meistens aus dem Portemonnaie in eine Vielzahl alter Marmeladengläser, die werden dann im Schrank gesammelt und versteckt – hinter und unter einer Menge von ziemlich viel getragenen Kleidungsstücken, die, natürlich, alle wohl geordnet und nach wie vor gut tragbar sind. Sie zählt das Geld nicht, sammelt nur und hat bisher darüber auch geschwiegen. Aus einer alten Angst es könnte jemand diesen Groschen nehmen wollen. Der Grundton von Frau I. ist deutlich sparsam, ist einer, der im Mangel wohnt, der nie frei raus bis unter alle Himmel tönen kann. Damit eins klar ist: Frau I. hat ihre Tassen voll im Schrank und ist auch nicht verwirrt; nicht was das Geld angeht und auch nicht überhaupt.

Geld und Glück und Liebe nach dem Krieg

Frau I. hat eine Schwester, die ist piepjung mit 82 und die hat eine Freundin (die noch viel jünger ist, so Anfang 70); die beiden fahren, besser: fuhren, ganz regelmäßig über Land von B. nach H., besuchten dort die alte Schwester, gingen gemeinsam hin zum Werre-Ufer, saßen im Garten und freuten sich an allem und vor allem aneinander. Weil auch die jüngere Schwester nicht mehr gut zu Fuß ist, geht das nur mit Auto, das kürzlich, und damit nimmt die Story ihren Anfang, schrecklicherweise den ziemlich alten Geist aufgab. Vorbei die schönen kleinen Fahrten, die frohen Treffen, die herzerfreulichen Besuche – vorbei vorbei für alle drei.

Als Frau I. davon hört, schweigt sie. Länger. Was soll sie denn auch sagen über Enttäuschung und die Trauer, für die es ohne Auto keinen Trost und im Moment auch keine Worte gibt. Bis zum nächsten Telefonat denkt sie wohl nach und sagt dann zur Begrüßung: „Ich habe mal gezählt.“ Die Schwester weiß von nichts und denkt: Naja, das Alter…Frau I. spricht weiter: „Ich habe mal gezählt, es sind 1500,- Euro und die kriegt B., damit sie sich ein Auto kaufen kann…“ Die Schwester traut den Ohren nicht. Noch nie, niemals, nienicht hat sie erlebt, dass I. ein richtig großes Geld verschenkt. Eins, das sich lohnt. Sie weiß ja nichts vom Notfallgroschen, fragt nochmal nach und hört: Sie meint es ernst, die alte Sparmaus, sie will, dass es ein Auto gibt und Ausflüge nach H. und dafür schenkt sie ihre Gläser leer.

Und nein, sie hätte dieses Geld niemals gebraucht. Und ja, es war ein echter Augenstern, das Geld im Schrank. Es zu verschenken ist eine echte, tiefe Herzensgabe jenseits aller Nachkriegs-(Un)Komfortzonen und weit über die hinaus. Das mag sich komisch lesen, wahr ist es trotzdem.

Jetzt steht das große Wechseln noch bevor: Schwester und Freundin aus B. werden, da ohne Auto, von D. aus B.  nun noch nach H. gefahren;  die Gläser werden feierlich auf den Rollator verladen und zur Sparkasse gebracht. Die Scheine wandern dann zum Schrauber, der sich schon umsieht, nach einem Auto-Schnäppchen – das Geld wird reichen, da sind alle sicher. Die Autorin auch.

Und lernen kann ich als Hörende, wie gut es ist, dass wir uns immer ändern können, dass jedes Herz mit jedem Atemzug ein bisschen weiser, weiter, liebevoller werden kann. Und Freude macht das auch. Mit 99 sowieso. Und vorher immer auch.

Veröffentlicht von

Conny Dollbaum-Paulsen

Präsenzcoach, Unternehmerin, Text- und Wortweberin, und lebendig geprüfte Essentiologin

4 Gedanken zu „Kein Atemzug zu spät“

  1. oooh, liebe, ja, da kommt mir auch ein freudentränchen daher. … ist aber auch soooo schön geschrieben. danke dir.

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